„Wir sind besonders sensibel“, so der damalige polnische Verteidigungsminister Radek Sikorski im Jahre 2006, „wenn es um Korridore geht und darum, den Osten Europas anders zu behandeln als den Westen. Das erinnert an Locarno und an den Molotow-Ribbentrop-Pakt. Das ist 20. Jahrhundert.“ Es ging um das russisch-deutsche Projekt einer Gas-Pipeline durch die Ostsee. Es ging um Nord Stream 1. Heute steht fest: Der Gas-Deal zwischen Deutschland und Russland über die Köpfe der Osteuropäer hinweg, später noch erweitert um Nord Stream 2, steht für die größte Katastrophe deutscher Außenpolitik nach 1945.
Im Rahmen der Auftaktveranstaltung des neu gegründeten „Forums für wehrhafte Demokratie“ stellte der Journalist Steffen Dobbert sein gemeinsam mit dem Kollegen Ulrich Thiele verfasstes Buch „Nord Stream: Wie Deutschland Putins Krieg bezahlt“ vor. Die Veranstaltung im Göttinger Kunsthaus, die von FWD-Gründungsmitglied Karl Adam moderiert wurde, traf auf großes Publikumsinteresse. Die Sitzreihen waren voll besetzt, als Dobbert aus seinem Buch las, Fotos vom Euromaidan in Kyjiw zeigte, oder in die offene Diskussion mit den Teilnehmenden einstieg.
Dabei birgt das Buch so viel politischen Sprengstoff, dass man sich eigentlich nur wundern kann, wie zahlreiche der handelnden Protagonisten weiter in Ämtern und Würden bleiben konnten. Sie und ihre Helfershelfer arbeiteten aktiv daran mit, eine Diktatur in den Stand zu versetzen, ein Nachbarland mit Krieg zu überziehen, dessen Todeszahlen seit 2014 längst in die Hunderttausende gehen. Sie kollaborierten bei einem russischen Plan, der drei Ziele hatte: „Deutsche Abhängigkeit von russischem Gas, Spaltung der EU und Re-Kolonialisierung der Ukraine.“ Dobbert und Thiele haben eine Angewohnheit, die Dinge auf den Punkt zu bringen, die frösteln lässt: „Putin will die Ukraine entukrainisieren. In Teilen ist ihm das mit Geld aus Deutschland bereits gelungen.“
Nun mag manch ein Kritiker die Frage stellen, ob man das denn so einfach sagen könne. Besteht da denn wirklich so ein direkter Zusammenhang? Wer auch nur die ersten fünfzig Seiten dieses Buches liest, wird sich sehr schwer damit zu tun, auf solche Fragen mit „Nein“ zu antworten. Am Ende jedes Jahres werden fein säuberlich die Summen aufgelistet, die Deutschland an Gazprom überwiesen hat – und diese Summen dann dem russischen Militärhaushalt gegenübergestellt. Dass dieses Buch existiert, und gleichzeitig deutsche Politiker schon wieder anfangen, über einen künftigen Wiederbetrieb der teilweise gesprengten Nord-Stream-Pipelines zu schwadronieren, macht sprachlos. Man wähnt sich in einem Horror-Film: Das Monster ist bereits besiegt und tot, steht aber im Rücken des Protagonisten nochmal auf … Der Eindruck, den solche Debatten in Osteuropa erwecken, wo man doch hoch und heilig versprochen hatte, künftig besser „zuzuhören“, ist verheerend. Bräuchte es aber nicht gerade jetzt Zusammenarbeit und Einklang in Europa und in der Europäischen Union?
Es macht nach wie vor Staunen: Die Ziele, die der Kreml mit Nord Stream verfolgte, lagen – nicht nur im Nachhinein! – derart deutlich auf dem Tisch, dass man trotz aller Informationen, die in diesem Buch zutage gefördert werden, trotz aller Enthüllungen, die einem immer wieder die Haare zu Berge stehen lassen, immer noch das Gefühl hat, dass mindestens ein Puzzle-Teil fehlt: Wie konnten die nur?
Wenn man dieses Buch und das Gefühl, das es auslöst, in einem einzigen Wort zusammenfassen müsste, dann lautet dieses Wort: Beeindruckend.
Beeindruckend ist zunächst die Rechercheleistung der Autoren, die mit großer Akribie die kleinen und großen Details zu einem Gesamtbild zusammenfügen, die mit vielen Informanten im Hintergrund sprachen, (zu deren Schutz teilweise die Namen änderten) und das nüchtern, in strenger Chronistenpflicht verfasst, gerade dadurch beklemmende Einblicke in das kalte Wesen strategischer Korruption – um die handelt es sich über weite Strecken – vermittelt.
Denn auch der Stil und die Komposition der Fakten ist beeindruckend: Während hierzulande die feine Gesellschaft aus Politik, Wirtschaft und Verwaltung auf Gazprom-Kosten in der Oper sitzt, schlagen tausend Kilometer weiter östlich die Raketen ein. Der direkte Zusammenhang dürfte den Beteiligten oft gar nicht bewusst gewesen sein; wenn sie ihn nicht bewusst verdrängt hatten.
Beeindruckend ist auch der Aufwand, den Russland bei seiner großen Unternehmung unternommen hat: Behörden, Kultureinrichtungen, Sportvereine, Journalisten, Segelregatten, Kindergärten, Büchereien, Orchester, Grundschulen, wissenschaftliche Institute, ein Freizeitpark und die notirische „Klima“-Stiftung – sie alle wurden mit „Sponsoringgeldern“ bedacht und damit wissentlich oder unwissentlich Teil des großen Plans, der mit Akribie und Präzision ausgeführt wurde.
So stümperhaft sich die Russen im direkten Krieg oft anstellen, so „meisterhaft“ agieren sie im sogenannten hybriden Krieg: Von den gefälschten „Protokollen der Weisen von Zion“ der zaristischen Geheimpolizei Ochrona über die umfassenden Vertuschungsbemühungen des Massenmords von Katyn bis zur putinistischen Implementierung der Strategie „Gas als Waffe“ im Rahmen der hybriden Kriegsführung – es zieht sich ein roter Faden durch die russische Geschichte, der endlich abgetrennt gehört. Leider stehen die Anzeichen dafür, dass dies in naher Zukunft gelingen könnte, nicht zuletzt aufgrund der gegenwärtigen Diktatorenkumpanei in Washington, nicht allzu gut.
Auf spezielle Szenen im Buch nochmal gesondert einzugehen, erübrigt sich eigentlich. Wo sollte man da auch anfangen? Bei der Weitergabe von geheimen NATO-Daten an die „Nordstreamler“ durch das Bergamt Stralsund? Bei der Tatsache, dass man im Kanzleramt sehr wohl mit einem Krieg in der Ukraine gerechnet, und auch bereits Flüchtlingsbewegungen „eingepreist“ hatte? Bei den Steuerunterlagen der sogenannten Klima-Stiftung, die „aus Versehen“ im Kamin aufgingen? Vieles war ja bereits bekannt, bekommt aber in der Ballung nochmal eine besondere Schärfe.
Es bleibt ein letzter Umstand, der „beeindruckend“ ist, und der sich an etwas anlehnt, was der Osteuropa-Historiker Jan Claas Behrends gesagt hat: Es ist beeindruckend zu sehen, welche Wirkmacht deutsche Politiker haben können, wenn sie etwas wirklich wollen; welche Risikobereitschaft, welchen Einfallsreichtum, welche intrinsische Motivation und welcher Kampfgeist, selbst unüberwindbar scheinende Hürden zu überkommen. Was wäre in diesem Land alles möglich, wenn diese Energie auf Ziele gelenkt würde, die nicht in Krieg, Zerstörung und Terror münden.
Nicht zuletzt die klugen Fragen aus dem Publikum und die differenzierten, klar abgewogenen Antworten Dobberts, machten den Abend zu einem Abschluss, wie ihn sich das „Forum für wehrhafte Demokratie“ für seinen Auftakt nicht passender hätte wünschen können.
„Nord Stream. Wie Deutschland Putins Krieg bezahlt“, von Steffen Dobbert und Ulrich Thiele, Klett-Cotta, Stuttgart 2025, 369 Seiten, 18,00 EUR.
